Ein Mann, ein Alienkönigreich und eine Schrotflinte: Nach 26 Jahren ein Blick hinter die Kulissen von Blackthorne
Vor der realistischen Zukunftsvision von Overwatch und der kriegsgeplagten Fantasylandschaft von Azeroth, vor den Hohen Himmeln und den Brennenden Höllen und der Kolonisierung des Koprulu-Sektors gab es Tuul. Geburtsstätte des Kronprinzen und künftigen Haudegens, dem schrotflintenschwingenden Erretter seines Volkes: Kyle.
Obwohl sein Name allein wahrscheinlich nicht ausreicht, um die Herzen seiner Feinde mit Furcht zu erfüllen, ist Kyle „Blackthorne“ Vlaros dennoch ein wichtiger Protagonist. Er gehört zu den Charakteren, dessen Geschichte und Welt die Blizzard-Spiele von heute geprägt haben. „Jedes andere Spiel, das wir seitdem entwickelt haben, basiert darauf, was wir von wandernden Schweden, schnellen Flitzern, Rock ’n’ Roll und einer Schrotflinte gelernt haben“, so Senior Art Director Sam Didier.
Der Einfluss von Blackthorne ist in allen aktuellen Blizzard-Spielen spürbar: die Orcs von Warcraft, das Gegenstandssystem von Diablo, die Sci-Fi-Schlachtfelder und die mit Apostrophen gespickten Namen von StarCraft, die futuristische Welt von Overwatch. Es ist ein Spiel, das die Entwickler bei Blizzard schon seit fast drei Jahrzehnten begleitet.
Senior Art Director Didier, Principal Composer Glenn Stafford und Mitglieder der Blizzard-Community schwelgen in Erinnerungen an Orcs, Schrotflinten und was sie von Kyle Blackthorne gelernt haben.
Die Welt von Tuul
1994 bestand Blizzard Entertainment nur aus einer Handvoll Entwicklern, die gleichzeitig an mehreren Spielen arbeiteten. Das erforderte schnelles Umdenken zwischen den verschiedenen Franchises. Was die verschiedenen Blizzard-Spiele dieser Ära vereinte, waren: grelle Farben, muskelbepackte Pixelcharaktere und energetische Soundtracks. „Wir haben immer an mehreren Spielen gleichzeitig gearbeitet“, erzählt Didier. „Wir mussten in der Lage sein, zwischen den verschiedenen Looks der Spiele hin und her zu springen. Zum Glück waren es alles Blizzard-Spiele, also hatten sie alle einen ähnlichen Grundtenor, wie heroische Charaktere und bunte Umgebungen. Unsere ersten Orcs haben wir für Blackthorne erschaffen.“
Für Stafford war das Komponieren der Musik für Blackthorne und anschließend Warcraft: Orcs & Humans ein Traum. „Als wir mit der frühen Entwicklung von Warcraft anfingen, war Blackthorne bereits weit genug gediehen, dass ich etwas Zeit für Warcraft-Musikideen aufbringen konnte. Es war aufregend, weil wir der Vollendung und Veröffentlichung von Blackthorne immer näherkamen und nebenbei noch mit der Entwicklung dieses coolen neuen Fantasy-RTS begonnen hatten.“
Blackthorne war einer von Blizzards frühesten Vorstößen, Worldbuilding und Geschichte in einen Side-Scroller zu verpacken, und hatte seine Wurzeln in Spielen wie Flashback, Prince of Persia und Another World. Insbesondere Kyle Blackthorne war zur Zeit der Spieleentwicklung ein Versuch, den Status quo von Protagonisten in Videospielen voranzutreiben. „Wir wollten einen Charakter erschaffen, der noch cooler und härter war als die Hauptcharaktere anderer Spiele“, so Didier. „Unserer sollte provokanter und etwas düsterer sein. Wir haben unsere eigenen Welten erschaffen und wollten, dass sie sich von allen anderen abhebt. Blackthorne war der Beginn des Blizzard-Designstils.“
Um die finstere Höllenlandschaft zu betonen, in die sich Kyle Blackthorne begibt, musste das Team einen passenden Soundtrack zusammenstellen. „Musikalisch gesehen ist der Heldencharakter in einer Albtraumwelt gefangen“, meint Stafford. „Die Musik der Originalversion auf dem Super Nintendo war nicht ganz Horror, aber auch nicht ganz Abenteuer. Sie sollte die albtraumhafte Umgebung und den düsteren, aber entschlossenen Charakter von Kyle Blackthorne und seiner seltsamen Lage untermalen.“
Kyle Blackthornes „seltsame Lage“ bestand darin, ein moderner Held in einer Fantasy/Sci-Fi-Welt zu sein: mit Schusswaffen schwingenden Orcs und von Fackeln erleuchteten Hartlichtbrücken, die er überqueren musste, um Sarlac zu besiegen. Für Didier war es keine große Sache, beide Genres zu vermischen. „Unsere Welten haben wir damals einfach aus dem Stegreif erschaffen, ohne groß darüber nachzudenken. Ich bin mir sicher, Blackthornes Geschichte würde heutzutage verrissen und bis zum Gehtnichtmehr aufpoliert werden, aber damals haben wir schnell gearbeitet und uns einfach nur gefragt: ‚Hey, ist das cool?‘ Ja, war es.“
Die Coolness-Regel
Für die damaligen Blizzardkünstler, Didier eingeschlossen, fühlte sich Kyle Blackthornes Design mit Sonnenbrille, Achselshirt, langen Haaren und Jeans in einer Welt, die so gar nichts mit unserer Erde zu tun hatte, einfach richtig an. „Wir orientierten uns einfach an der Coolness-Regel. Ist es cool, kommt es ins Spiel. Wenn es nicht cool ist, wird es cool gemacht oder verworfen“, so Didier. „Um ganz ehrlich zu sein: Da war nichts Magisches dahinter, kein großer Plan, die Grenzen von Genres oder Medien zu überschreiten. In den 80ern und 90ern war das einfach der Look der coolen Kids. Blackthorne wurde mit dem, was er damals trug, in seine Welt teleportiert.“
Blackthornes schlichtes Design ermöglichte es dem Team, mit den Beschränkungen des SNES zu arbeiten, das dem Art-Team nur eine bestimmte Datenmenge pro Speichermodul zur Verfügung stellte. Laut Didier befeuerten diese Begrenzungen aber die Kreativität. Künstler fanden heraus, wie sie Animationen wiederverwerten konnten, und lernten, mit begrenzten Farbpaletten zu arbeiten. „Ich weiß nicht, wie wir es gemacht haben, aber im Grunde haben wir eine Schachtel alte Buntstifte genommen und damit Kunstwerke angefertigt.“
Die flüssigen Animationen erinnern zwar an ältere Cinematic Platformer, die den Entwicklern als Inspiration dienten, wichen aber von den typischen Techniken dieser Zeit ab. „Ursprünglich haben wir uns an einer eigenen Form der Rotoskopie probiert, bei der man Leute beim Rennen oder Klettern filmt und dann darüber zeichnet“, erzählt Didier. „Es war ein chaotischer und zeitintensiver Prozess. Wir beschlossen, die Idee zu verwerfen, um Zeit zu sparen und mehr cooles Zeug in das Spiel zu packen. Am Ende haben wir mit der gleichen Bildrate wie beim Rotoskopieren animiert. Und Bäm!, sofortige flüssige und realistische Animationen.“
Die Täler entlang klingt das Lied der Schrotflinten
Die rasante Musik, die Kyle Blackthornes gefährliche Reise durch Tuul begleitet, wurde von Glenn Stafford komponiert, der Stücke für weitere Blizzard-Spiele wie Warcraft, StarCraft und World of Warcraft schrieb. 1994 musste Stafford innerhalb enger Grenzen arbeiten, um seine Kompositionen unter dem Speicherlimit des SNES zu halten. „Wir hatten eine Beschränkung von acht Stimmen oder Noten gleichzeitig, Soundeffekte eingeschlossen. Wir mussten wirklich Prioritäten setzen und kreative Wege finden, den Speicher zu maximieren und gleichzeitig eine möglichst volle Geräuschkulisse zu schaffen.“
Stafford weist aber darauf hin, dass die Beschränkungen auch eine Art Freiheit mit sich brachten – man wusste, dass nur acht Noten gleichzeitig abspielbar waren und konnte somit alle anderen Optionen ausschließen. Das Komponieren lief deswegen viel schneller ab als heutzutage. Der lineare Ablauf des Spiels ermöglichte Stafford, für bestimmte Zonen und Levels zu komponieren – anders als für seine nachfolgenden Projekte im RTS oder MMORPG-Bereich. „Diese haben zwar auch einige lineare Entwicklungen, aber der Fokus liegt eher auf Kartenerstellung, nichtlinearem Gameplay und Online-Mehrspieleraspekten.“
Bis heute Tag ist der Kompositionsprozess einer bestimmten Zone unvergessen. „Ein Großteil der Musik für Blackthorne war relativ atmosphärisch und nicht sonderlich thematisch, aber ich habe die Atmosphäre der Dschungelzone geliebt. Ich konnte einige Regenwassergeräusche in den Titel einbetten.”
Erinnerungen an eine Ära
Für einige junge Entwickler, die von einer Karriere in der Spielebranche träumten, war Blackthorne ein Grund, bei Blizzard arbeiten zu wollen. Bei Marshall Garcia, Specialist Game Master, wecken die Pixellandschaft und die dynamische Musik von Tuul Erinnerungen an eine Kindheit voller fantastischer Welten auf dem SNES. „Ich glaube das Spiel war einzigartig im Vergleich zu anderen Blizzard-Spielen seinerzeit – ein Side-Scroller wie Prince of Persia mit Gewehren und orkischen High-Fantasy-Elementen machte das Spiel auf eine Art und Weise interessant wie wahrscheinlich kein anderes“, sagte er. „Das Spiel war für mich sehr prägend in der DOS-Ära (disk operating system).“
Er erinnert sich, wie ihn das Aussehen der Verpackung und des Strategiebuchs im Laden angezogen haben. „Als kleiner Junge fand ich das genauso cool wie die Cover von Wolfenstein 3D und Doom daneben.“ Nachdem er sich ein Exemplar gekauft hatte, begab er sich als Kyle Blackthorne und mit dessen Schrotflinte auf die Reise, um seinen Thron zurückzuerobern. „Ich erinnere mich gerne, wie ich angefangen habe, das Spiel zu lernen und die Herausforderungen zu meistern, während ich auf dem Schoß meiner Großmutter saß und sie mir helfen musste, wenn es zu schwer wurde.“
Auch Cristiano Alburitel, Global Director of Consumer Marketing, erinnert sich gerne an seine Zeit in Tuul zurück und lässt sie manchmal sogar wiederaufleben. „Ich spiele immer noch Blackthorne“, so Alburitel. „Ich bin ein Retro-Nerd und die Pandemie hat meine Lust daran nur wachsen lassen. Als ich klein war, hatte ich keinen Computer, also hatte ich meine erste Begegnung mit Blackthorne auf dem SNES. Heute besitze ich die Versionen für SNES, GBA und meinen ganzen Stolz, die SEGA 32X-Version.“
Um den kulturellen Einfluss von Blackthorne zu verstehen, muss man laut Alburitel zuerst den Kontext der Zeit und seine Teenager-Mentalität verstehen. 1994 zählte er Metallica und Armee der Finsternis zu seinen Favoriten und kein anderes Spiel konnte seinem Liebling Prince of Persia das Wasser reichen. „Dann brachte Blizzard ein Spiel mit einem Titelhelden heraus, der wie ein Sprössling von Ash Williams und Kirk Hammett aussah und eine Schrotflinte in der Hand hielt. Plötzlich war Prince of Persia nicht mehr mein Lieblingsspiel.”
Für ihn markiert das Spiel den Anfang der detailreichen Geschichten, Welten und Charaktere, für die Blizzard berühmt werden sollte. Es ist eine einzigartige Kombination aus unnachahmlicher Optik und Worldbuilding, welches künftigen Spielen als Grundlage dienen sollte. „Betrachte Blackthorne mal von dieser Seite,“ meint Alburitel. „Während du mit einer Schrotflinte bewaffnet die Route 66 oder so entlangtrampst, wirst du auf wundersame Weise auf einen anderen Planeten transportiert. Eigentlich stammst du aus einem Adelsgeschlecht von Aliens. Du besitzt magische Steine. Dein Daddy war dieser König Vlaros auf einem Mittelerde-ähnlichen Planeten namens Tuul. Überall auf dem Planeten laufen böse Orcs herum. Dieser Sarlac-Typ sieht Diablo verdächtig ähnlich. Und trotz all dieser Hintergründe heißt du aus unerfindlichen Gründen schlicht Kyle.“
Alburitels erstes Spiel als Kyle war für ihn zweifelsohne eine der einprägsamsten und authentischsten Blackthorne-Erfahrungen, die man haben kann. „Man drückt irgendwelche Tasten, um herauszufinden, wie alles funktioniert. Lässt sich von der fließenden Haaranimation während eines Sprints ablenken. Man findet heraus, wie man mit Gefangenen redet. Die sagen einem, man sei der Auserwählte. Dann drückt man plötzlich auf die Schrotflintentaste. Und Kyle erschießt, ohne mit der Wimper zu zucken, den Gefangenen, der auch wunderschönes langes Haar hatte.”
Foto aufgenommen von Cristiano Alburitel
Für Alburitel war Blackthorne ein verrücktes und spaßiges Spielerlebnis und es machte die Arbeit bei Blizzard zu seinem Traumjob. „Ich war noch jung, aber wollte definitiv Teil des Clubs sein, aus dem dieses Spiel hervorging“, erzählt er. „Anders als viele andere Blizzard-Mitarbeiter bin ich ohne PC aufgewachsen. Ich hatte erst einen, als ich viel älter war. Selbst meine erste Diablo-Erfahrung fand auf der PlayStation statt. Meine ersten Erinnerungen an Blizzard-Spiele waren daher Konsolentitel wie Blackthorne. Es war für mich eine lange Reise, um mit dem Lichtstein vom Planeten Tuul zu Blizzard zu kommen. Und hier bleibe ich.“
Die Lektionen, die Blizzard-Entwickler aus Blackthorne gezogen haben, begleiten sie auch heute noch. Für Didier ist es das Wissen, dass etwas nicht perfekt sein muss, um großartig zu sein. „Wenn du etwas Cooles machst, werden es die Leute mögen“, meint er. „Wenn du etwas Unterhaltsames machst, werden es die Leute spielen. Mach keine Dinge, die Leute leicht vergessen und die in der Beliebigkeit versinken. Wir machen bereits seit 30 Jahren Spiele und es ist schön zu wissen, dass es trotz unserer riesigen geflügelten Franchisetitanen immer noch Leute gibt, die von Blackthorne sprechen und in Erinnerungen schwelgen.“
Und was hat Stafford daraus gelernt?
„Wenn man mal in einem Albtraum-Dungeon feststeckt, sollte man auf jeden Fall eine Schrotflinte dabeihaben.“